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Was tun wir mit der Chance?

 

Meine erste Reaktion, neulich, als ich gebeten wurde über "Krise als Chance" zu schreiben: Brechreiz. „Krise als Chance? Ehrlich? Ich kann es nicht mehr hören.“ Dann war ich über mich selbst ein wenig erschrocken und dachte: Naja, vielleicht ist dieser „Krise=Chance - Nerv“ im fortschreitenden Coronajahr bei mir - und bei vielen anderen- mittlerweile überreizt. Und schmerzt. Und dann kommt die Abwehr, ein Automatismus - Reiz – Reaktion – bammm. „Kurze Lunte“ nennen wir das in meiner Familie. 

Außerdem lautet die Gleichung: Krise = Gefahr + Chance. Nun atme ich auf. Weil ich die Wahrheit darin wieder spüre. Ja. Das Leben bringt unentwegt Gefahren und Möglichkeiten hervor und wir können durch Krisen reifen und uns entwickeln .

Aber Krisen sind sehr heikel. Es kann schiefgehen. Es kann auch gut gehen. Aber es kann nicht bleiben, wie es ist. Wenn ein System instabil wird, ist das erstmal gefährlich.

Ganz gleich, ob außen, in Natur und Ökosphäre, oder in unserem Körper und dem Ökosystem unserer Psyche. Die Chance ist immer, dass es nach einem Zusammenbruch zu einer Neuorganisation kommen kann- und zwar auf einer komplexeren und stabileren Ebene. Das ist der Code der Evolution. 

Aus der Systemtheorie wissen wir, wie das geht- nämlich nur und ausschließlich, wenn aus der Erfahrung gelernt wird. Nur darauf kommt es an. Es kann sich in jedwede Richtung entwickeln. Im besten Fall lernen wir und sind offen für die komplexere Lösung. Aber wir können auch zurückfallen in Chaos und größere Instabilität, persönlich und global. Um zu lernen müssen wir es wagen, hinzuschauen. Im Ökosystem Psyche bedeutet es, mit schwierigen Zuständen und Gefühlen in Kontakt zu sein.

Ohje. Und Wow! Das ist eine Heldentat- immer. Denn destabilisiert zu sein ist ein Zustand der Gefahr. Angst wird all unsere Automatismen triggern. 

Es ist aber auch ein Zustand der Offenheit. 

Was ich in all den Krisen meines Lebens gelernt habe ist: Es gibt nicht wirklich die Kontrolle und Sicherheit – dafür aber etwas viel Größeres: die Offenheit selbst ist der vertrauenswürdige Raum. Ich selbst bin die Offenheit. Bin das Werdende. Meine Ausbilderin in Ökotherapie, Meredith Little, nennt das: „We are our becomingness“. Weise, weise Frau.

Denn dann wird vieles möglich. Die Augen öffnen, forschend erkennen, wie wir in diese Lage kamen und was wir brauchen, um weiterzugehen. Das ist es, was wir in der Psychotherapie tun. Und das Leben bringt uns täglich viele Gelegenheiten, das zu üben. Da bin ich wieder beim Stichwort „kurze Lunte“. Und zitiere zum Schluß auch noch einen weisen Mann – der große Seelenforscher Viktor Frankl sagte es so: „ Zwischen Reiz und Reaktion ist ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Fähigkeit, unsere Reaktionen bewußt zu wählen. In unserer Reaktion liegt unser Wachstum und unsere Freiheit.“ 

So möge es geschehen- für mich und für Dich und für uns alle.

 

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